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Einstürzende Neubauten: Alles in Allem (2020)
Die Einstürzenden Neubauten veröffentlichen zu ihrem 40-jährigen Jubiläum ein neues Album: »Alles in Allem« versammelt 10 Stücke, in denen es thematisch weitestgehend um die Erforschung des Topos ‚Berlin‘ geht. Ein Umstand, der sich erst im Prozess ergab: Eine Song-gewordene, äußerst zynische Reflexion des Zustands der Hauptstadt schaffte es nicht aufs Album und hinterließ so ein Loch, um das herum sich weitaus differenziertere Auseinandersetzungen mit Berlin ergaben. So wandert Blixa Bargeld durch Erinnerungen, durch Träume, montiert Fragmente – und doch geht es auch immer um die Gegenwart dieser ungreifbaren Stadt. Die Texte legen dabei bisweilen Spuren in die Vergangenheit, führen ins eigene Werk, knüpfen an alten Texten an und überführen sie auf diesem Weg in die Zukunft.
In den einzigartigen Klang- und Textlandschaften der 1980 in Berlin gegründeten Gruppe offenbart sich so jene Zeitlosigkeit, die sich Blixa Bargeld, N.U. Unruh, Alexander Hacke, Jochen Arbeit und Rudi Moser stets erhalten haben: Durch ihre experimentellen Herangehensweisen ans Songwriting, die in vier Jahrzehnten entwickelten Instrumente und das kollektive Arbeiten klingt die Band in ihrer eigenen Zeitrechnung auffallend gegenwärtig. Ja, die Einstürzenden Neubauten scheinen mit ihrer einzigartigen Musik stets äußerst präzise im jeweiligen Jetzt zu walten, ob im Industrial der Frühphase, den treibenden 90er-Jahren oder dem bedachten Spätwerk.
Direkt das erste Stück „Ten Grand Goldie“ ist dabei ein Beispiel für die Innovationskraft, die dem Arbeiten der Neubauten innewohnt: Blixa Bargeld rief weltweit einzelne Supporter der Gruppe an, jene kultische Fangemeinschaft, die seit 2002 durch alternative Finanzierungsmodelle die Unabhängigkeit der Band unterstützt, lange bevor Crowdfunding-Formate populär wurden. Die Supporter durften so auch am kreativen Prozess partizipieren, spendeten durch spontane Antworten auf Bargelds Fragen Fragmente des späteren Texts. Die Fans, organisiert im Neubauten-Forum neubauten.org, das gleichzeitig Archiv des umfangreichen Werks ist, waren überhaupt immer wieder involviert, hatten sie doch regelmäßigen Zugriff auf die Arbeit am Album, wurden über Live-Webcasts zugeschaltet, interpretierten und diskutierten die Songs untereinander und mit der Band. Belohnt wurden sie dabei nicht nur durch den Umstand, konkret am Schaffen ihrer Lieblingsband mitwirken zu können, sondern auch durch exklusiv für sie produzierte Singles. Außerdem erscheint parallel zum Album ein durch diese Zusammenarbeit beeinflusstes limitiertes Deluxe Boxset, das neben einem umfangreichen Buch und einer DVD mit AV-Material auch eine zusätzliche CD und LP mit sieben Stücken beinhaltet, die nicht auf dem Album erscheinen. Es lohnt sich also, ein Unterstützer der Band zu werden, nicht nur, weil man dieser außergewöhnlichen Gruppe so ihre zukunftsweisende Arbeit ermöglicht.
Die Bedingungen haben sich durch diese neuen Ansätze also erneut verändert, ein Umstand, der auch in den Stücken hörbar ist. Doch nicht alle veränderten Bedingungen gefallen der Band. Der traditionelle Besuch der Schrottplätze etwa, um dort neue Gerätschaften zur Klangentwicklung zu finden, gestaltete sich schwieriger denn je. Bargeld: „Die lassen einen ja nicht mehr auf den Schrottplatz – allein schon versicherungstechnisch.“ So suchten sich die fünf Klangforscher andere Materialien. Für „Taschen“ etwa: einfache Reisetaschen, die sie mit Lumpen füllten, was einen direkten Bezug zu dem Stück aufmacht, in dem es in Anlehnung an Ghayath Almadhouns Gedichtband „Ein Raubtier namens Mittelmeer“ um das Ertrinken vor den Grenzen Europas geht. Dabei gibt es selten eine klare Intention, die Interpretation ist so oder so den Zuhörern überlassen. Wie soll es auch eine klare Botschaft geben, wenn das Schreiben häufig auf Träumen basiert oder dem Zufall überlassen wird? Für das titelgebende „Alles in Allem“ etwa spazierte Bargeld über einen Gang außerhalb des Studios und beschrieb die Assoziationen, die der abgeplatzte Belag am Boden in ihm hervorrief, was auch in einem der Webcasts dokumentiert wurde. So fanden „verkürzte Krokodile“ und „Plasmazellen ohne Kern“ Einzug in das Stück.
Das Prinzip des freien Assoziierens war dabei für einen überwiegenden Teil der Stücke wichtig: Das vor Jahrzehnten entwickelte Kartenspiel „Dave“ (benannt nach der Stimme von Bargelds Navigationssystem) kam im Entstehungsprozess der Platte immer wieder zum Einsatz: Die Bandmitglieder zogen aus einem Fundus von 600 beschrifteten Karten einzelne heraus und arbeiteten dann musikalisch inspiriert von den vorgefundenen Begriffen. Und auch, wenn in „Am Landwehrkanal“, das für Neubauten-Verhältnisse ungewohnt schunkelnd daherkommt, Rosa Luxemburg gemeint ist, könnten die Verse „Wir hatten tausend Ideen / Und alle waren gut“ durchaus eine Selbstbeschreibung der Band seien. So ist eine besondere Platte entstanden: „Alles in Allem“, das erste reguläre Studioalbum der Einstürzenden Neubauten seit 12 Jahren, zeigt eine unvergleichbare Band, die ihre eigene Kategorie bildet, ihr eigenes Genre stiftet.
Mit denen neuen Stücken und dem umfangreichen Backkatalog gehen Einstürzende Neubauten auf Deutschland- und Weltournee, die konkreten Daten finden sich auf der Website www.neubauten.org.